ÜBERLASTUNGSBEDINGTE SEHNENVERLETZUNGEN: AKTUELLE KONZEPTE ZUR URSACHE UND THERAPIE (2023)

PD Dr. med. Thilo Hotfiel

Überlastungsbedingte Sehnenverletzungen (Tendinopathien) stellen häufige Beschwerdebilder von Sporttreibenden jeglichen Alters und Leistungsanspruchs dar. Die Tendinopathie ist ein klinischer Begriff, der eine schmerzhafte und in ihrer Funktion eingeschränkte Sehne beschreibt (1). Neben der Schmerzsymptomatik und der Gefahr einer progredienten Strukturschädigung sind erhebliche Einschränkungen der muskulären Kraftentfaltung und der Leistungsfähigkeit zu verzeichnen (2).

Grundlegend können Tendinopathien in akute, chronische und akut auf chronische Manifestationen eingeteilt werden. Bezüglich der Lokalisation werden die knöcherne Insertion (Insertionstendinopathien), der Sehnenverlauf (z.B. „Mid-Portion“-Tendinopathie der Sehnentaille) und der muskulotendinöse Übergang unterschieden. Tendinopathien im Sport basieren in der Regel auf einer überlastungsbedingten Kausalität (Missverhältnis zwischen einwirkender Belastung und Belastungsfähigkeit), wobei potentielle Risikofaktoren die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Tendinopathie negativ beeinflussen können (2). Differentialdiagnostisch müssen stets andere Ursachen, bzw. die Therapie beeinflussende Begleitmorphologien bedacht werden:

  • Sehnenruptur
  • Degenerative Partialrupturen, „Bulky-Lesions“
  • Enthesitis als periphere Manifestation einer systemisch-entzündlichen Grunderkrankung
  • Medikamenteninduzierte Tendinopathie (z.B. Gyrasehemmer-induzierte Tendinopathie)
  • Peritendinitis, Synovialitis, Bursitis
  • Intratendinöse Ossifikationen
  • Apophysäre Ossifikationsstörungen/Osteochondrosen (z.B: M. Sever-Haglund)
  • Stress-/ Insuffizienzfrakturen
  • Nervenentrappment
  • Zentral- oder peripher neurologische Ursachen (z.B. radikuläre Schmerzausstrahlung)

Der Ausschluss einer Teil- oder Komplettruptur sollte stets geprüft und dokumentiert werden.

„Tendon cell response“ - Tenozyten nehmen eine Schlüsselrolle ein
Tenozyten sind bekanntlich essentiell für die Aufrechterhaltung der strukturellen und funktionellen Kapazität der extrazellulären Sehnenmatrix (3). Bislang sind viele Modelle zur Entstehung von Tendinopathien beschrieben worden (3, 4). Ältere Hypothesen basieren auf einer veränderten Kollagenzusammensetzung mit einhergehenden Mikroverletzungen (4, 5) oder dem Vorliegen von Entzündungsprozessen (6). Das jüngste und als „Continuum Model“ publizierte Modell hat innerhalb der letzten Jahren eine breite Akzeptanz erfahren und basiert auf der Annahme einer veränderten Zellaktivität der Tenozyten (4, 7). Am Prinzip der „Tendon cell response“ knüpfen viele Konzepte zur Entstehung, Therapie und Prävention von über- und fehlbelastungsbedingten Tendinopathien an (3, 4, 8). Gekoppelt an einen mechano-biochemischen Signalweg hat eine Über- und/oder Fehlbelastung direkten Einfluss auf die Funktion dieser wichtigen Zellpopulation (3, 4, 9).

Diagnostik und Therapie
Das diagnostische und therapeutische Vorgehen stellt hohe Anforderungen an die beteiligten Behandler und setzt eine interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus. Zunächst gilt es eine sorgfältige Diagnostik durchzuführen, bei der in üblicher Vorgehensweise die Anamnese, klinischer Untersuchung und der gezielte Einsatz bildgebender Verfahren Anwendung finden.

Berücksichtigung potentieller Risikofaktoren
Risikofaktoren sollte obligat während der Anamnese und klinischen Untersuchung erfasst und frühzeitig in das Behandlungskonzept integriert werden. Je nach Verletzungsentität werden in der Literatur verschiedenste Faktoren (mit unterschiedlich hoher Evidenz) beschrieben. Ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang liegt nicht in jedem Fall vor und lässt sich im Einzelfall oftmals nicht endgültig bestätigen (2).

SpannungsfeldBe-, Ent- und Überlastung
Die auf eine Sehnenstruktur einwirkende mechanische Beanspruchung nimmt auf die Entstehung, Remission und (ggf.) Heilung einer Tendinopathie eine elementare Schlüsselrolle ein. Aus biomechanischer Sicht kommt der Art und Richtung der Krafteinwirkung eine entscheidende Bedeutung zu: Axiale Traktionsbelastungen (Zugbelastungen) sind für Sehnen physiologische Belastungen und daher ideal um optimale, der Zugrichtung entsprechende Umbau- und Anpassungsprozesse zu induzieren (3). Für Anpassungen des Sehnengewebes ist die Höhe der einwirkenden Kräfte, die Geschwindigkeit und Qualität der Bewegungsausführung sowie deren Dauer bedeutsamer als z.B. die alleinige Betrachtung der Kontraktionsform der Muskulatur (2).

Trainingstherapie - „Exercise-based approach“
Die Trainingstherapie zur gezielten Krafteinwirkung auf die Sehnenstruktur stellt ein bewährtes und erfolgreiches konservatives Therapieverfahren der Achilles- und Patellarsehnentendinopathie dar. Neben dem exzentrischen Krafttraining zeigen ebenso das isometrische, konzentrische und (Heavy) Slow Resistance Krafttraining gute klinische Ergebnisse, wobei eine Trainingsdauer von ca. 12 Wochen üblicherweise nicht unterschritten werden sollte. Mit abnehmenden Beschwerden gilt es nach einer ersten Phase langsamer und mit besonders kontrollierten Übungsformen die Belastungen zu steigern und sowohl verstärkt schnellkräftige als auch sportspezifische Bewegungsmuster in das Trainingsprogramm zu integrieren (2).

Physikalische Therapie
Positive Effekte der extrakorporalen Stoßwellentherapie sind insbesondere bei Insertionstendinopathien belegt; bei Mid-Portion-Tendinopathien zeigt sich die Kombination von ESTW mit exzentrischem Krafttraining als wirksam (2). Als lokale Effekte werden positive Auswirkungen hinsichtlich der Beeinträchtigung der sensorischen Aktivität von freien Nervenendigungen, der Aktivierung von Wachstumsfaktoren und der Aktivitätsreduzierung von Metalloproteinasen auf zellulärer Ebene angenommen (10, 11).

Welche Rolle spielt die Technische Orthopädie?
Hilfsmittel wie Orthesen, Bandagen, Kompressionsbekleidung, Einlagen oder Schuhzurichtungen werden als wertvoller Baustein in der konservativen Therapie und in der Prävention zur Adressierung von Risikofaktoren (z.B. biomechanische Fehlstellungen, Instabilitäten, etc.) regelhaft eingesetzt. Unter Berücksichtigung o.g. biomechanischer oder neuromuskulärer Überlegungen sollten orthopädietechnische Hilfsmittel individuell indiziert und angepasst – und ggf. gefertigt - werden. Hilfsmittel werden je nach Konstruktionsprinzip häufig dem klassischen „mechanischen Ansatz“ und dem „neuromuskulären Ansatz“ zugeordnet - aus wissenschaftlicher Perspektive sind beide Ansätze jedoch untrennbar verbunden (12-14).

Die Anwendung einer moderaten Kompressionstherapie („Compression garments“) hat insbesondere in der Prävention und Therapie überlastungsbedingter Muskelverletzungen einen hohen Stellenwert erlangt (15). Eine aktuelle Studie zur Pathogenese der Achillessehnentendinopathie spricht der Kompressionstherapie zur Optimierung der peritendinösen Mikrozirkulation eine hohe Bedeutung zu (16). Letztlich gilt es hochqualitative Studien abzuwarten, inwieweit die Kompressionsbehandlung als adjuvantes Verfahren, die klinischen Ergebnisse etablierter Therapieprotokolle positiv beeinflussen kann.

In der Entstehung von Fehlbelastungen einer Sehne kommt (wie oben ausgeführt) der Richtung einer Krafteinwirkung eine elementare Bedeutung zu. Kompressionskräfte scheinen für die (Patho)-genese von Insertionstendinopathien (z.B. prox. Hamstring-Tendinopathie, AS-Insertionstendinopathie) prognostisch ungünstig zu sein (1, 17). Kompressionskräfte entstehen vor allem an Insertionsgebieten unter endgradigen Bewegungsausmaßen oder veränderter Knochenmorphologie wie Knochenvorsprüngen mit räumlichem Konflikt zur Sehne (z.B. präachilläre Haglund-Exostose). Aus praktischer Sicht sind die Insertionstendinopathien allerdings für gezielte, biomechanische Einflussnahmen besonders empfänglich.

Versorgungsbeispiel Achillessehnen-Insertionstendinopathie – und warum die Mid-Portion nicht profitiert
Durch eine Veränderung der Sprengung (Höhendifferenz zwischen Fersenmittelpunkt und Großzehengrundgelenk) kann folglich die Stellung des Fernbeines zugunsten einer biomechanischen Entlastung der Insertionsregion verändert werden – kritische intratendinöse Kompressionsbelastungen sollen auf der Grundlage biomechanischer Überlegungen reduziert werden. Die Beeinflussung der Sprengung („Absatzhöhe“) hat für die Insertionstendinopathie eine enorme Bedeutung und kann durch eine Veränderung einer vorhandenen Einlage, eines Fersenkissens oder bereits vorgegeben durch eine spezielle Bandage/Orthese erreicht werden. Dieses traditionelle Prinzip findet ebenfalls bei der Versorgung von fersennahen Überlastungsreaktionen im Wachstumsalter (M. Sever-Haglund) Anwendung. Tendinopathien der Sehnentaille (Mid-Portion) erscheinen für diese Maßnahmen weniger geeignet. Nicht zu vernachlässigen ist die mit der Sprengungsveränderung einhergehende potentielle Verkürzung der angrenzenden Muskulatur, die es durch die im Therapiekonzept fest verankerte Trainingstherapie zu vermeiden gilt.

Literatur:

  1. Abat F, Alfredson H, Cucchiarini M, Madry H, Marmotti A, Mouton C, et al. Current trends in tendinopathy: consensus of the ESSKA basic science committee. Part I: biology, biomechanics, anatomy and an exercise-based approach. J Exp Orthop. 2017;4(1):18.
  2. Hotfiel T, Freiwald J, Weisskopf L, Grim C, Engelhardt M. Überlastungsbedingte Tendinopathien. Orthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen und Nachrichten Springer Verlag 2020;10 (3).
  3. Couppe C, Svensson RB, Silbernagel KG, Langberg H, Magnusson SP. Eccentric or Concentric Exercises for the Treatment of Tendinopathies? The Journal of orthopaedic and sports physical therapy. 2015;45(11):853-63.
  4. Cook JL, Rio E, Purdam CR, Docking SI. Revisiting the continuum model of tendon pathology: what is its merit in clinical practice and research? British journal of sports medicine. 2016;50(19):1187-91.
  5. Screen HR, Shelton JC, Chhaya VH, Kayser MV, Bader DL, Lee DA. The influence of noncollagenous matrix components on the micromechanical environment of tendon fascicles. Ann Biomed Eng. 2005;33(8):1090-9.
  6. Rees JD, Stride M, Scott A. Tendons--time to revisit inflammation. British journal of sports medicine. 2014;48(21):1553-7.
  7. Cook JL, Purdam CR. Is tendon pathology a continuum? A pathology model to explain the clinical presentation of load-induced tendinopathy. British journal of sports medicine. 2009;43(6):409-16.
  8. Hotfiel T, Bily W, Bloch W, Gokeler A, Krifter RM, Mayer F, et al. Nonoperative Treatment of Tendon Injuries. Sports Orthopaedics and Traumatology. 2017;33(3):258-69.
  9. Freedman BR, Gordon JA, Soslowsky LJ. The Achilles tendon: fundamental properties and mechanisms governing healing. Muscles Ligaments Tendons J. 2014;4(2):245-55.
  10. Zwiers R, Wiegerinck JI, van Dijk CN. Treatment of midportion Achilles tendinopathy: an evidence-based overview. Knee surgery, sports traumatology, arthroscopy : official journal of the ESSKA. 2016;24(7):2103-11.
  11. Visco V, Vulpiani MC, Torrisi MR, Ferretti A, Pavan A, Vetrano M. Experimental studies on the biological effects of extracorporeal shock wave therapy on tendon models. A review of the literature. Muscles Ligaments Tendons J. 2014;4(3):357-61.
  12. Freiwald J, et al. . Obere Sprunggelenkverletzungen, Prävention und Rehabilitation unter der Perspektive der modernen Motorikforschung. MOT 2007;17-25(1).
  13. Hotfiel T, Hotfiel KH, Gelse K, Engelhardt M, J F. The use of insoles in competitive sports - Indications, effectiveness, sport specific treatment strategies. Sports Orthopaedics and Traumatology. 2016; 32(3):250-7
  14. Hotfiel T, Hotfiel KH, Gelse K, Engelhardt M, Freiwald J. Einlagenversorgung im Leistungssport – Indikationen, Wirkungsweise, sportspezifische Versorgungsstrategien. Sports Orthopaedics and Traumatology. 2016;32(3):250-7.
  15. Brown F, Gissane C, Howatson G, van Someren K, Pedlar C, Hill J. Compression Garments and Recovery from Exercise: A Meta-Analysis. Sports medicine (Auckland, NZ). 2017;47(11):2245-67.
  16. Wezenbeek E, Willems T, Mahieu N, De Muynck M, Vanden Bossche L, Steyaert A, et al. The Role of the Vascular and Structural Response to Activity in the Development of Achilles Tendinopathy: A Prospective Study. The American journal of sports medicine. 2018;46(4):947-54.
  17. Cook JL, Purdam C. Is compressive load a factor in the development of tendinopathy? British journal of sports medicine. 2012;46(3):163-8.

„Continuum Model“ nach Cook et al. Modifiziert nach Rudavsky et al. (2014). Journal of Physiotherapy 60; 122-129

Eine sorgfältige klinische Untersuchung ist obligat

Sonographie der Achillessehne im Logitudinal- und Transversalschnitt: Vorliegen einer akuten Mid-Portion Tendinopathie der Achillessehne mit spindelförmiger Auftreibung, echoarmer ventraler Raumforderung und Zeichen einer Neovaskularisation im Farbdopplermodus (weißer Kasten).

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Author: Tish Haag

Last Updated: 05/27/2023

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